Content Notice, CN (Hinweis zum Text): Der folgende Text beschäftigt sich mit Rassismus und erwähnt Polizeigewalt, Covid-19 und den Anschlag in Hanau 2020. Diese Themen können emotional belasten und triggern. Im Zweifel lest den Text nicht oder gemeinsam mit Freund*innen und achtet auf Euch.
Februar ist Black History Month. Der hat in einigen Ländern wie den USA und Großbritannien offiziellen Status und schafft einen Rahmen für das Erinnern an Schwarze Persönlichkeiten wie etwa Schwarze Bürgerrechtler*innen und die Geschichte_n Schwarzer Menschen, die auch – aber bei Weitem nicht nur – eine Geschichte der Versklavung und Gewalt ist. Die 2020 um die Welt gegangenen Zeugnisse von (Polizei-)Gewalt und Morden gegen BIPoC (Black, Indigenous and People of Color – zusammenfassende Selbstbeschreibung für Menschen, die von Rassismus betroffen sind aus US-Kontext) und die Black Lives Matter-Bewegung verleihen den Anliegen des Black History Month dieses Jahr besondere Aktualität.
2020 und folgende sind eine fordernde Zeit für BIPoC. (Polizeilicher) Rassismus war auf der Straße, und nun auch vermehrt in den Medien allgegenwärtig (nicht immer gelungen, wie zuletzt bei „Die letzte Instanz“ des WDR – besser, nein, am besten!, macht‘s “Die beste Instanz” mit Enissa Amani). Auch sind marginalisierte Menschen wie BIPoC mehr von der Pandemie betroffen – konkret gesundheitlich, aber auch zusätzlich aufgrund von durch die Jahrhunderte gewachsenen Verflechtungen von Rassifizierung mit verschiedenen anderen Diskriminierungsformen wie Klasse/Armut/Arbeit und Gesundheit/Be_Hinderung.
„I can‘t breathe!“
Die verschiedenen Effekte und Erscheinungsformen von Rassismus – Ermordung durch Cops, das Ertrinken im Mittelmeer, das Erkranken und Sterben an Krankheiten wie z.B. Covid-19, besondere Ausgesetztheit gegenüber Umweltschäden und Klimawandel,… – beschreibt die Rassismusforscherin Vanessa Thompson mit Rückgriff auf den französischen antikolonialen Theoretiker Frantz Fanon als die “Verunmöglichung von Atmen”.
Für uns ist der Black History Month dieses Jahr Anlass, uns mit der Geschichte der Theorien und Praxen, die uns wichtig sind und mit denen wir arbeiten, zu beschäftigen. Denn viele der Ideen, auf die wir – Teil feministischer, klimapolitischer, linker und alternativer Subkulturen – bauen, wurden von indigenen und Schwarzen Menschen und Gemeinschaften of Color entwickelt und geprägt.
Das gilt zum Beispiel für das Konzept Intersektionalität, geprägt von der Schwarzen US-Juristin Kimberlé Crenshaw, die das Zusammenspiel verschiedener Positionierungen (ursprünglich: race, class & gender) beschreibt. Dieses beruht wiederum auf den Erfahrungen (radikaler) Schwarzer Frauen, die weder vollständig im weiß dominierten Feminismus und Sozialismus noch in der männerdominierten Schwarzen Befreiungsbewegung oder der liberalen Organisierung Schwarzer Frauen aufgingen (vgl. z.B. Combahee River Collective, A Black Feminist Statement, 1977). Intersektionalität ist ein Meilenstein für mehrfachdiskriminierte Menschen, um sich ihre politische Lage erklären und sie beschreiben zu können. Diese politische und auch akademische, … Arbeit ist die Grundlage, auf der wir heute verschiedene Formen von Diskriminierung überhaupt zusammendenken und Kämpfe gegen einzelne Formen von Diskriminierung und für Emanzipation vereinen können.*
Ähnlich verhält es sich mit unseren Herzensthemen Transformative Gerechtigkeit (TG) und Gemeinschaftlicher Verantwortungsübernahme (Community Accountability): Sie beruhen auf den jahrhundertealten Praxen restaurativer Konfliktlösungsprozesse indigener Gemeinschaften in Nordamerika und der Maori, wurden weiterentwickelt von US-Abolitionist*innen und Queers of Color. Wir wollen euch zwei tolle (englischsprachige) Texte zu den komplexen und wichtigen Auseinandersetzungen um TG hier empfehlen:
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„Race and Community Accountability“ von Qui Dorian Alexander
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„On Cancel Culture, Accountability, and Transformative Justice“ von adrienne maree brown
Aber auch andere Gebiete wie nachhaltige Landwirtschaft und Permakultur sowie verschiedene Musikgenres haben ihre Entstehung in BIPoC-Kultur_en, und werden nach einiger Zeit als Konsumgut für und zum Profit weißer* Menschen kommerzialisiert.
Was bedeutet es also für uns als linke Leute in einem weiß dominierten (Szene-) Umfeld, in der Uni, in der Besetzung, im Lesekreis oder Autonomen Zentrum, in Theorie & Praxis mit Schwarzem Wissen zu tun zu haben?
Für uns sind Ansätze hierzu, uns mit Geschichte und Kultur von BIPoC, und im europäischen/deutschen Kontext auch insbesondere mit jüdischen, migrantisierten und Geflüchtetenperspektiven auseinanderzusetzen, dazu zu recherchieren, lesen & zuzuhören (Tipp: BIPoC Projekten & Leuten auf Twitter/Mastodon folgen!). Kämpfer*innen und Theoretiker*innen sichtbar(er) zu machen und ihre Ideen zu verbreiten. Uns zu bemühen, unsere Angebote für alle zugänglich(er) zu machen, z.B. durch Mehrsprachigkeit und Übersetzungen. Repression aus Perspektive rassifizierter Perspektive mitzudenken, Wissen dazu zu teilen, Geld & praktischen Support zu geben (z.B. über den A Fund). Zu versuchen, unsere von weißer Hegemonie geprägten Verständnisse bestimmter Begriffe und Handlungen abzulegen und unser Bewusstsein für neue Prioritäten, Bedeutungen und Verständnisse zu öffnen (z.B. Spiritualität). Ernst zu nehmen und zu unterstützen, was Schwarze Abolitionist*innen forder(te)n – zum Beispiel eine unversöhnliche Kritik an Polizei, Repression & Knast aufrechtzuerhalten, auch wenn diese vielen (gerade) nicht (lebens-)bedrohlich erscheinen, weil sie weiß und auch anderweitig privilegiert sind. Ein Überblick über abolitionistische Forderungen findet sich im Text „Burn down the American Plantation. Call for a Revolutionary Abolitionist Movement“.
Das sind einige Überlegungen & Praxen von uns, den Wurzeln von TG und vor allem BIPoC-Mitstreiter*innen im Hier und Jetzt gerecht zu werden. Wir haben offensichtlich nicht den Masterplan, unsere Gedanken und Praxis dazu sind ein fortlaufender Prozess. Wir freuen uns über Gedanken und Kritik dazu im solidarischen Austausch.
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Diesen Februar jährt sich auch der Anschlag von Hanau am 19. Februar 2020, als ein rassistischer Mörder gezielt 9 migrantisierte Menschen erschoss. Auch ein Jahr später bleiben wichtige Fragen um den Umgang der Sicherheitsbehörden unbeantwortet: Wieso konnte der Notausgang der Arena Bar, vermutlich zwecks polizeilicher Razzien, verschlossen werden? Warum kamen die vielen Notrufe der Opfer und Überlebenden während der Tatnacht nicht durch? Warum wurden die Ermordeten gegen den Willen ihrer Angehörigen obduziert? Warum erhielten die Angehörigen Gefährderansprachen, während der Vater des Täters seinen Sohn in Schutz nimmt und gegen das Gedenken hetzt?
Hanau erfüllt uns mit Trauer, Wut und Unverständnis. Wir fordern Aufklärung und sind in Gedanken bei den Überlebenden und Angehörigen und allen, die seit Hanau Angst haben.
Und wir freuen uns über die Gedenkveranstaltungen und vor allem die Projekte, die aus der Selbstorganisierung der Angehörigen entstanden sind, z.B. die Bildungsinitiative Ferhat Unvar (auf Twitter @BI_FerhatUnvar).
#saytheirnames
Kaloyan Velkov
Fatih Saraçoğlu
Sedat Gürbüz
Vili Viorel Păun
Gökhan Gültekin
Mercedes Kierpacz
Ferhat Unvar
Said Nesar Hashemi
Hamza Kurtović
Erinnern heißt kämpfen!
* Beispiel aus der Klimagerechtigkeitsbewegung: Das Zine “Kämpfe zusammen_führen. Warum Klimawandel kein Ökothema ist”
* weiß wird in diesem Text klein und kursiv geschrieben, um darauf hinzuweisen, dass Weißsein die unhinterfragte Norm in einer rassistischen Gesellschaft ist, während Schwarz, da es eine positive Selbstbezeichnung ist, groß geschrieben wird.