Kleine Einführung in die Strafkritik
Vor einiger Zeit las ich ein Zitat von Marshall Rosenberg, das mich zum Nachdenken bracht: “Bestrafung ist die Wurzel der Gewalt auf unsere Planeten”. Dieser Satz hat mich sehr beeindruckt, auch wenn ich gegenüber Rosenberg eher ambivalente Gefühle habe. Viel wird in anarchistischen Kreisen Strafe als hierarchiebildend und reproduzierend kritisiert. Der Befehlscharakter des Strafprinzips und die daraus resultierende Normalisierung von Unterordnung sind natürliche Feinde einer jeden antiautoritären Person. Aber Bestrafung als die Wurzel der Gewalt? Das setzt die Frage um Strafe auf ein ganz anderes Niveau. Es sieht Strafe nicht als Symptom einer hierarchischen Gesellschaft, sondern als die Quelle der gewaltvollen Zustände.
Strafe ist nicht nur etwas das in Gerichten und durch den Schiedsrichter beim Fußballspielen ausgeübt wird. Straflogik ist ein fester Bestandteil unserer Gesellschaftsordnung und ist praktisch überall zu finden. Vom Nachsitzen in der Schule, dem aufs Zimmer geschickt werden als Kind, zur Abmahnung auf Arbeit über den Strafbefehl, Abschiebung, Disziplinarstrafen, Vereinsstrafen, Knast und auch in unseren Beziehungsdynamiken – Strafe ist omnipräsent.
Dabei lernen wir von klein auf die beiden Rollen Strafen und Bestraft werden kennen. Gewalt ausüben und Gewalt erfahren. Befehlen und gehorchen.
Diese Rollen sind nicht an Personen gebunden, sondern werden von uns allen immer wieder eingenommen, auf beiden Seiten. So wird es für uns normal systematisch anderen Menschen Leid zuzufügen, im Namen der ‘Gerechtigkeit’. Und das entgegen jeder Vernunft. Denn es ist eine Tatsache, dass Strafe nicht langfristig funktioniert. Statt Probleme zu lösen, richtet sie enormen Schaden an re_produziert Gewalt, Unterdrückung und Gehorsam. Blockiert Empathie und Kooperationsbereitschaft.
So kommt selbst das deutsche Justizministerium in einer Studie zu dem Schluss, dass Haftstrafen die Wahrscheinlichkeit der Wiederbegehung einer Gewalttat erhöhen gegenüber nicht vollstreckten Strafen (z.B. Bewährung).¹ Diese Strafromantik ist tief verankert und wird tagtäglich von Medien, Fernsehen und Kultur allgemein gepredigt. Strafe funktioniert heißt es immer wieder – entgegen der widersprechenden Realität. So werden wir mit dieser Lüge sozialisiert und Kritik an diesem Prinzip übertüncht. Wir haben strafendes Denken so tief internalisiert, dass wir keine Fakten oder Beweise mehr brauchen, um an der Richtigkeit und Gerechtigkeit der Strafe zu glauben.
Strafe führt dazu, dass wir in einem ‘Kreislauf aus Angst und Gewalt gefangen sind, der Herrschaft dauerhaft fortsetzt’¹. Sie befördert Rachedynamiken in unserem Miteinander.
Doch wie sind wir an diesen Punkt gekommen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einige Jahrhunderte zurück blicken.
Die Geschichte der Strafe beginnt, wenig überraschend, mit der katholischen Kirche. Im 6. Jahrhundert führte ein Papst das Fegefeuer ein, ein System, dass verschiedene “Sünden” nach ihrer Schwere hierarchisiert und entsprechende Strafen zuordnet. Je schlimmer die Sünde, desto mehr bzw. länger das Leiden im Fegefeuer. Damit wurden zwei Grundsätze der Strafe etabliert. Wer gegen Regeln verstößt verdient zu Leiden und das Maß an Leid soll durch eine Institution festgelegt werden. Eine ähnliche Funktion erfüllt heute das Strafgesetzbuch. Es legt fest, was als Straftat gilt und welche Strafen dafür vorgesehen sind. Im 11. und 12. Jahrhundert wurde die Kirche zunehmend von einer dezentral organisierten Glaubensgemeinschaft zu einer zentral organisierten Institution mit eigener Verwaltung und Gesetzen. Damit war die katholische Kirche in ihrer Struktur eine Art Prototyp für heutige zentral organisierte Nationalstaaten. Mit dieser Umwandlung begann die Kirche eine Abkehr von kodifiziertem Gewohnheitsrecht der Gemeinschaften zu zentral organisierter gesetzlich geregelter Justiz. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass die Kirche durch ihre Gesetze nun für Leute entscheiden wollte, was diese als falsch und richtig anzusehen haben und ihnen vorschreiben, wie damit entsprechend umzugehen sei. Und da die Kirche die göttliche Ordnung und Gerechtigkeit für sich in Anspruch nimmt, wird eine Sünde nicht mehr zu einem zwischenmenschlichen Konflikt, bei dem die direkt Betroffenen zentral sind, sondern es geht nun um ein Verstoß gegen Gott und dieser kann nur durch Sühne, heißt Leid, bereinigt werden.
Diese Denke hat sich bis heute in unseren sekulären Rechtssysteme erhalten. Es geht nicht mehr um göttliche Ordnung, sondern um den Erhalt der Rechtsordnung, Gewaltmonopol und des Rechtsstaats. Es heißt nicht mehr Sühne, die absichtsvolle Leidzufügung ist aber die selbe. Die Worte haben sich geändert. Die ideellen Wurzeln und die Struktur der heutigen Rechtssysteme stammen aber aus dem Mittelalter.
Damit sind wir beim strafenden Staat angelangt. Der Staat hat sich unsere Konflikte angeeignet und regelt mit Gesetzen, welche Handlungen als falsch und somit strafbar anzusehen sind. Da der Staat dabei die gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen widerspiegelt, bedeutet dies zwingend, dass dabei nach dem Interesse der Herrschenden eine solche Einteilung geschieht. Während es legal ist Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, Menschen durch Spekulation verhungern zu lassen etc. ist es Verboten ohne gültige Papiere sich innerhalb der Grenzen aufzuhalten. War im patriarchalen Strafgesetzbuch in Deutschland Vergewaltigung innerhalb von Ehen nicht strafbar.
So wird deutlich, dass es nicht das Ziel der Gesetze ist Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, Frieden zu schaffen. Stattdessen soll der gewaltvolle Status Quo erhalten und durchgesetzt werden.
Wenn wir zwischenmenschliche Gewalt und diese Verhältnisse angehen wollen, können wir also nicht auf diese System von Gesetzen, Gerichten und Polizei vertrauen. Um unsere Konflikte zu lösen und einen Umgang mit Gewalt zu finden, müssen wir Konflikte reclaimen und aufhören diese einfach an den Staat abzugeben und diese in einen Rechtskonflikt umwandeln zu lassen. Denn wir brauchen keine Staatsanwaltschaft und Richter*innen, die entlang des Konstrukts strafrechtlicher Relevanz ein Strafverfahren führen. Dabei wird eine gewaltvolle Handlung nur im Dualismus “Täter” und “Opfer” betrachtet. Die Zusammenhänge wie Gemeinschaft und Umfeld werden ignoriert. Es geht nicht um eine eigentliche Konfliktlösung. Stattdessen wird der Konflikt entfremdet und abstrahiert. Es geht um “Sachverhaltsklärung”, also die Suche nach einer vermeintlichen objektiven Wahrheit und schlussendlich eben um Strafe. Geoffrey des Lagasnerie fasste dies treffend zusammen mit den Worten
“Gerichtlich zu urteilen bedeutet, Gewalt anzutun”²
Die Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen treten komplett in den Hintergrund. Sicherheit für Betroffene, Heilung, Empowerment, Verantwortungsübernahme durch Gewaltausübende und Gemeinschaften sind nicht erwünscht. Dazu kommt noch, dass viele Verfahren wegen Gewalttaten zu einem Zwangsverfahren führen und die Betroffenen so zu zermürbenden Ermittlungen, Vernehmungen und Prozessen gezwungen werden und letztlich damit erneut Übel zugefügt wird.
“Die Geschichte der Entstehung von Recht ist auch die der Entstehung von Herrschaft als zwangsausübender Macht”
– Uwe Wesel
Auf dem Weg zu emanzipatorischen Gemeinschaften, die verantwortungsvoll und handlungsfähig mit zwischenmenschlicher Gewalt umgehen können, müssen wir die Straflogik lernen zu hinterfragen und letztlich abzuschütteln. Ansonsten werden wir bei Versuchen aus den Verhätlnissen auszubrechen uns doch immer wieder nur im Kreis drehen.
Denn um noch einmal auf Marshall Rosenberg zurück zu kommen:
“We all pay dearly when people respond to our values and needs not out of a desire to give from the heart, but out of fear, guilt, or shame”
ignite! Workshopkollektiv, 2018
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¹ Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen, Studie von Jörg-Martin Jehle, Hans-Jörg Albrecht, Sabine Hohmann-Fricke und Carina Tetal. Herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz 2016.
² Strafe und Gefängnis , Rhezi Malzahn (Hg.) Schmetterlingverlag 2018.